Kriminologie als wissenschaftliche Disziplin
Anlässlich der Gründung der Schweiz. Arbeitsgruppe für Kriminologie traten die Gründer eine weite, offene und innovative Vorstellung der Disziplin ein: «Die Kriminologie beschränkt sich nach traditionell enger Auffassung auf die empirische Erforschung des Verbrechens und der Täterpersönlichkeit. Kennzeichnend für diese Position sind beschreibende Darstellungen der Gesamtkriminalität oder von Einzeldelikten sowie wissenschaftliche Einzelfall- und Längsschnittstudien. Unter psychologischen, psychopathologischen, psychoanalytischen und eklektischen Konzepten werden Lebensläufe von Straffälligen geschildert und Konfliktsituationen beschrieben. Die weitergefasste Konzeption in der Kriminologie bezieht aber auch die erfahrungswissenschaftliche Kenntnis über die Wandlungen des Verbrechensbegriffs (Kriminalisierung) und die Bekämpfung des Verbrechens, die Kontrolle des sonstigen sozial abweichenden Verhaltens sowie die Untersuchung der polizeilichen und gerichtlichen Kontrollmechanismen in die Analyse ein. Danach umfasst der kriminologische Gegenstand die Vorgänge und Entstehung von Gesetzen, die Verletzung von Gesetzen und die Reaktion auf Gesetzesverletzungen »[1].
Die im Schlusssatz des Zitats definierte Gegenstandbereich der Kriminologie hat immer noch Gültigkeit, nimmt er doch die ganze Breite von Straffälligkeit, strafbarem Verhalten und ihren Folgen in den Blick. Die Kriminologie als «eine interdisziplinäre und international eingebundene Wissenschaft hat längst ein theorie- und empiriefundiertes Wissen zur Kriminalität, zum Verbrechen, zum Täter und Opfer sowie zu den verschiedenen staatlichen und privaten, informellen und formellen Reaktions- und Präventionsformen erarbeitet.»[2] Dabei ist jedoch festzustellen, dass in der Schweiz die Kriminologie noch kaum als vollwertige und unabhängige Sozialwissenschaft anerkannt wird und das Lehrfach Kriminologie mit wenigen Ausnahmen (noch) nicht vollumfänglich institutionalisiert ist. Am ehesten kann davon gesprochen werden, dass die Kriminologie als Forderung nach einem eigenen Forschungsgebiet wahrgenommen wird und in diesem Sinne auch – erfreulicherweise - gefördert wird.
Die Kriminologie ist in der Schweiz meist in den rechtswissenschaftlichen Fakultäten angesiedelt. Die Lehre wird weniger von Personen durchgeführt, die als Kriminologen ausgebildet wurden, denn von Rechts- und Sozialwissenschaftern, die sich für das Themengebiet und die Forschungsgegenstände der Kriminologie interessiert haben und sich als Kriminologen verstehen. Das Lehrpersonal rekrutiert sich immer noch in erheblichem Umfang aus den Rechts- oder Sozialwissenschaften mit Zusatzausbildungen in Kriminologie.
Die Schweizerische Arbeitsgruppe für Kriminologie setzt sich ein für die Anerkennung der Kriminologie als eine empirisch gestützte, autonome wissenschaftliche Disziplin mit eigener, vollständiger Lehre sowie eigenen Forschungsfeldern. Gleichzeitig unterstützt sie die Lehre kriminologischen Wissens in universitären und beruflichen Ausbildungen, die sich mit sozialen Problemen, Devianz oder Delinquenz befassen.
Stand 1.12.2023
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[1] Nicht datierte Informationsschrift des Schweizerischen Nationalkomitees für Geistige Gesundheit über die Ziele und Aufgaben der Arbeitsgruppe für Kriminologie.
[2] Freiburger Memorandum zur Lage der Kriminologie in Deutschland, 2013.